Im April und Oktober 2019 bereiste Martin Remigius Wohlwend mit Nine Dragon Heads, einem internationalen Künstlerkolleg, die DMZ, die demilitarisierte Zone, entlang der Grenze zwischen Nord- und Südkorea. Cheorwon ist ein geografischer Ort, wo sich einer der vielen Stützpunkte Südkoreas befindet. Neben touristisch aufbereiteten Attraktionen wie einem Gedenkort des Friedens und einem Museum der Kraniche gibt es dort zwei von vier berüchtigten Tunneln zu besichtigen. Diese soll der Feind im Norden in den 1970er Jahren gegraben haben, um Südkorea zu infiltrieren. Es entstanden bis zu dreieinhalb Kilometer lange Gänge in über 70 Meter Tiefe.
Tunnelerlebnis
Als der Künstler bei seinem ersten Aufenthalt in einen der Tunnel hinabstieg, hielt er sich von der Gruppe zurück, um so die Stimmung des Tunnels auf seinem Mobiltelefon einzufangen. Plötzlich merkte er, wie ein einzelnes Gruppenmitglied, das sich später über Platzangst beklagte, den Weg nach draußen früher als die anderen antrat und alleine auf ihn zukam. Wohlwend hielt inne, filmte die Szene und realisierte in diesem Moment, dass er gerade dieselben Emotionen einfing, welche er kurz zuvor in der Ausstellung von Ed Atkins im Kunsthaus Bregenz/A wahrgenommen hatte.
Ein halbes Jahr später befand sich Wohlwend wieder in der DMZ, dieses Mal in einem anderen Tunnel. Er blickte erst in die Richtung der Gruppe, die vor ihm stand. Plötzlich nahm er einen Gesang hinter sich wahr. Er drehte sich um, sah aber niemanden. Geistesgegenwärtig zückte Wohlwend sein Mobiltelefon und drückte auf Aufnahme. Er konnte kaum seinen Augen trauen; er sah dieselbe Situation wie beim ersten Mal: Aus dem Nichts, zwergenklein und ganz weit weg, bewegte sich im schmalen Tunnel eine Person auf ihn zu. Diese hatte sich zuvor von der Gruppe entfernt. Aufgrund der strengen Vorschriften und Anweisungen des Sicherheitspersonals ließen sich diese beiden Szenen nicht inszenieren. Der Zufall hatte es so gewollt.
Teufelskreis der Traurigkeit
Wohlwend will mit diesem Werk den Umgang mit dem Thema "Grenzen" in den Fokus rücken. Ihm geht es um menschengemachte Grenzen, Landesgrenzen. Grenzen werden hochgezogen und kontrolliert. Sie können aber auch minimiert, missachtet, überschritten oder zerstört und überwunden werden.
Von den Süd- wie Nordkoreaner*innen wird die Grenzziehung als Tragödie empfunden. Diese hat sich als eiternde Wunde in die Volksseele eingraviert. Sie schmerzt, wenn Wohlwend mit den Menschen vor Ort spricht. Er spürt eine Melancholie in ihren Worten, eine Traurigkeit in ihren Gesichtern, ein großes Unverständnis. Die Menschen fühlen sich verloren und ohnmächtig angesichts der von außen eingepflanzten Trennung im Jahr 1953. Antworten auf ihre jahrzehntelangen Fragen finden sie allerdings nicht. Das lässt sie umso frustrierter zurück.
Die beiden Tunnel-Videos Cheorwon spiegeln in abstrakter Weise den endlosen emotionalen Kreislauf wider, in dem sich die Koreaner*innen auf beiden Seiten befinden. Die Tonspur der beiden Videos entspricht dem Originaltrack in den beiden Tunneln, mit der einzigen Ausnahme, dass hin und wieder ein einzelner Ton von einem Tastenanschlag auf das Klavierstück von "Good Wine" von Ed Atkins verweist. Der Künstler untersucht damit die Absurdität politischen und sozialen Verhaltens in Bezug auf die DMZ.
Quelle: Ausstellungskatalog Kunst Kann, Einblicke in zeitgenössische künstlerische Haltungen. Dagmar Frick, Marc Wellmann, Franz Moser, Leo Andergassen. gugler GmbH, Melk/A, 2020.
Cheorwons endloser, fegefeuerartiger Kreislauf ist eine Anspielung auf Ed Adkins "Good Wine", ein Teufelskreis der Traurigkeit.